Nach mehr als acht Monaten hat die Corona-Pandemie auch Nepal weiterhin im Griff. Help to help Ehrenamtlerin Caro (im Bild rechts), die im Bereich Kommunikation & Marketing unterstützt, lebt und arbeitet aktuell in Nepals Hauptstadt Kathmandu. Im Interview mit ihrer help-to-help-Kollegin Nicole (links m Bild) aus dem Bereich Medienkommunikatio verrät sie, wie der monatelange Lockdown die sonst so lebhafte Großstadt veränderte, warum die meisten Opfer der Pandemie in Nepal nicht an Covid-19 sterben könnten und wie sich die Krise bislang auf die Projektarbeit in dem Staat am Fuße des Himalaya auswirkte. Das Interview fand im Oktober 2020 statt.

Caro, wie schlimm ist Nepal aktuell von der Pandemie betroffen?

Caro: Die Auswirkungen von Corona sind noch schlimmer als das verheerende Erdbeben 2015, denn sie werden einschneidender und länger zu spüren sein. Die Fallzahlen gehen kontinuierlich nach oben. Im Prinzip läuft in Nepal noch die erste Welle, die hier durch den sehr frühen Lockdown erst gegen Juni richtig Fahrt aufgenommen hat. Die Regierung hat wertvolle Zeit verschenkt und es versäumt, die Öffentlichkeit umfassend zu informieren, das medizinische Personal zu schulen, Quarantänemöglichkeiten zu schaffen, Krankenhäuser auszustatten und genügend Schutzkleidung zu bestellen. Mittlerweile hat man leider das Gefühl, die Regierung hat den Kampf gegen Covid-19 aufgegeben.

Die nepalesische Regierung hat die Landesgrenzen schnell nach Auftreten des ersten Corona-Falls geschlossen. Glaubst Du, dass dies einen schlimmeren Verlauf der Pandemie und viele Todesopfer verhindert hat?

Caro: Nepal ging schon beim zweiten bestätigten Fall in den Lockdown - und zwar in einen sehr strikten. Zum Vergleich: In Deutschland waren es circa 22.000 Infizierte, als man einen teilweisen Lockdown beschloss. Doch der ist kein Allheilmittel. Er kauft nur (sehr teuer) Zeit. Die Zahl der indirekten Todesopfer - die also nicht direkt an Covid-19 gestorben sind - ist mittlerweile um einiges höher. Die Selbstmordrate ging nach oben, die vielen Menschen im informellen Sektor haben kein Einkommen und deshalb mehr Angst vor Hunger als vor Corona. Und der erschwerte Zugang zu medizinischer Versorgung hat zum Beispiel die Müttersterblichkeitsrate um 200 Prozent im Vergleich zum Vorjahreszeitraum nach oben gehen lassen. Viele Menschen haben trotz schwerer Gebrechen keinen Arzt oder ein Krankenhaus aufgesucht, aus Angst vor einer Infektion mit dem Virus. Da viele Krankenwagenfahrer keine Schutzkleidung gestellt bekamen, weigerten sie sich anfangs, überhaupt Patienten aufzunehmen.

 

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Igina, Isha und Manou aus Kathmandu vermissen es, in die Schule zu gehen.

 

Du bist während der Pandemie als Deutsche in Nepal geblieben. Wieso hast Du Dich dazu entschieden und wie hast Du Dich dabei gefühlt?

 

Caro: Ich hatte ohnehin vor, etwa ein halbes Jahr zu bleiben und von hier aus „remote“ zu arbeiten. Nepal ist für mich wie eine zweite Heimat geworden. Es war angesichts der Faktenlage keine leichte Entscheidung, aber letztlich habe ich auf mein Bauchgefühl gehört und die Entscheidung bislang keine Sekunde bereut. Ich kann von hier aus genauso (online) weiterarbeiten, wie ich es in Deutschland getan hätte. Zudem helfen die Miete, die ich hier zahle, und das Geld, das ich für tägliche Dinge ausgebe, den kleinen Geschäften hier in der Nähe.

Dein Wohnort ist die Hauptstadt Kathmandu. Was waren die größten Veränderungen, die Du dort in den ersten Tagen des Lockdowns beobachtet hast?

Caro: Der strenge Lockdown wurde in den ersten Wochen sehr strikt kontrolliert. Sämtliche Läden und Gastronomiebetriebe hatten geschlossen und lediglich die Lebensmittelgeschäfte hatten in den frühen Morgenstunden für zwei Stunden geöffnet. Die Straßen waren gespenstisch leer. Zunächst fühlten sich viele Nepalesen relativ sicher vor dem Virus. Ein psychologischer Wendepunkt war der erste Corona-bedingte Todesfall im Mai. Ab da hat man die Angst gemerkt, die umging. Bis zu diesem Tag hatten viele vermutlich noch an den Mythos des sehr starken nepalesischen Immunsystems geglaubt. Ein positiver Effekt waren die verbesserte Luftqualität und die Ruhe - beides Dinge, für die Kathmandu nicht direkt bekannt ist.

 

Es gibt Berichte von Europäern, die nach Ausbruch der Pandemie im Ausland diskriminiert und als „Überbringer des Virus“ gesehen wurden. Hast Du ähnliches erlebt?

 

Caro: Nein, im Gegenteil. Das Virus kam hier erst ein paar Monate später richtig an. Nepal befand sich lange in einer Art Blase. Während des ersten Lockdowns haben mich viele nepalesische Freunde gefragt, wie es mir geht und ob ich genug Essen hätte. Das war sehr rührend. Menschen auf der Straße haben gefragt, wo ich herkomme und wie schlimm die Lage in Deutschland ist. Wer viel Diskriminierung erfährt sind die vielen in Indien arbeitenden Nepalesen, die trotz geschlossener Grenzen in die Heimat zurückkehren, da sie sich nach dem Lockdown in Indien in einer prekären Lage sahen.

 

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Hungrige Affen auf dem sonst vielbesuchten "Monkey Tempel" in Kathmandu

2020 sollte für Nepal das Jahr des Tourismus werden. Wie schlimm wirkt sich das Fernbleiben der Touristen auf das Land aus, das stark von den Besucherströmen zum Himalaya abhängig ist?

Caro: Es ist ehrlicherweise desaströs, vor allem für die Volkswirtschaft. In Kathmandu ist das Touristenviertel Thamel gespenstisch leer. Viele Läden mussten dauerhaft schließen. Die Wirtschaft leidet unter dem strikten Lockdown und mit einer Erholung des Tourismus auf das Niveau vor Corona rechnet man in den nächsten fünf Jahren nicht. Zudem ist fast ein Drittel aller arbeitenden Nepalesen im Ausland tätig, etwa in den Golfstaaten, Indien und Malaysia. Viele sitzen dort immer noch fest, kommen nicht nach Hause - und die Hunderttausende, die nun zurückkommen, stellen den Binnenarbeitsmarkt vor eine große Herausforderung. Der einzige positive Nebeneffekt ist, wie an vielen Orten der Welt, dass sich die Natur an einigen sehr frequentierten Orten gut erholen konnte.

 

Wie hat die Pandemie sich auf die Arbeit von help to help ausgewirkt?

 

Caro: Da die Verteilung von Schutzkleidung und Masken von der Regierung nur sehr zögerlich koordiniert wurde, musste sich das Team vor Ort sehr schnell selbst eindecken. Die Patenkinder konnten monatelang nicht zur Schule gehen. Wir machen uns große Sorgen, dass nach der Pandemie noch mehr Kinder als vorher nicht zur Schule geschickt werden. Auch Kinderehen haben leider im Zuge der Pandemie und der finanziellen Nöte wieder zugenommen. Unsere kleine Krankenstation in Satrasaya arbeitete monatelang im Notbetrieb. Corona-Verdachtsfälle wurden in die nächstgelegene Klinik gefahren. Unser Krankenwagen ist von der Regierung auf Abruf gestellt worden und täglich sehr viel unterwegs - mit entsprechendem Verschleiß. Die Reifen sind schnell abgefahren und er frisst zudem sehr viel Benzin. Wir sind auf einmalige, aber auch auf langfristig angelegte Spenden und Projektpaten angewiesen. Man kann schon mit 30 Euro im Monat sehr viel bewirken.

 

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Im März, wenige Tage vor dem ersten strikten Lockdown gingen die Mädchen noch zur Schule und posierten mit Caro für ein Selfie

Welche Corona-Regeln gibt es und halten sich die Nepalesen daran?

Caro: Die Polizei kontrollierte lange die Maskenpflicht, aber das hat aufgehört, seitdem der Lockdown vor wenigen Wochen gelockert wurde. Der monatelange strikte Lockdown war kräftezehrend für die Bevölkerung und eine Erholung der Wirtschaft ist nicht in Sicht. Während man in Deutschland klotzte statt kleckerte, schauen viele Nepalesen in einen Abgrund. Man sieht aber, dass Covid-19 ernst genommen wird und man sieht fast niemanden auf der Straßen ohne Maske.

Welche Unterschiede im Umgang mit der Pandemie fallen Dir im Vergleich mit Deutschland auf?

Caro: Durch die vielen Arbeiter im informellen Sektor hat der Lockdown die Menschen viel schneller und viel härter getroffen. Man hat hier keine Ersparnisse und viele leben von der Hand in den Mund. Die noch junge Demokratie Nepal hat es nicht geschafft, in allen Distrikten die Regierungen einzubinden und gemeinsam einen Krisenplan oder eine Kommunikationsstrategie zu erarbeiten. Man schaut da manchmal ein wenig neidisch auf Deutschland, wo alles vergleichsweise gut gehandhabt und organisiert wurde. Über die Protestanten wegen der Corona-Maßnahmen konnte ich nur den Kopf schütteln. In Nepal gingen die Jungen auf die Straße, weil die Regierung eben nicht wirklich viel getan hat und sogar in der Pandemie noch in Korruptionsskandale verwickelt war.

 

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Die Gebetsmühlen haben in all den Jahren schon viel gesehen und zeigen sich unbeeindruckt von der Situation

Wie könnte sich die Krise langfristig positiv auf Nepal auswirken?

Caro: Die Wirtschaft wird sich neu ausrichten, sich mehr auf den Binnenmarkt konzentrieren und schauen müssen, wie man sich unabhängiger macht von Importen aus dem Ausland. Nepal importiert beispielsweise Dünger für den Reisanbau aus Indien.

Sehen die Menschen vor Ort einer Zukunft „nach Corona“ optimistisch oder pessimistisch entgegen?

Caro: Zum jetzigen Zeitpunkt ist ein Ende der Pandemie weit entfernt. Ein Silberstreif am Horizont ist, dass die Todesrate hier im Vergleich mit der Anzahl der Infizierten zum jetzigen Stand vergleichsweise gering ist - wobei nicht alle Infizierten ermittelt werden, weil viel weniger getestet wird. Der Himalayastaat ist wahrlich krisenerprobt: durch schwere Erdbeben, Bürgerkrieg, Königsmord und eine Regierung, von der keine hielt, was sie versprach. Ich habe das Gefühl, dass sich viele Nepalesen auch in dieser Krise eine Art Grundgelassenheit bewahren. Das ist schön zu beobachten. Dennoch wird Nepal, wie viele andere Länder, sehr auf die Hilfe von außen und auf Spenden angewiesen sein, um diese Krise meistern zu können.

 

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Straßenkunst in Lalitpur, der Schwesternstadt von Kathmandu und ein ausgestorbener Innenhof